Warschau – Partnerstadt und Vorbild für Berlin
Europa hat mehr Himmelsrichtungen als nur den Westen: Meinungsbeitrag von Kirsten Giering und Johannes von Thadden
Noch immer blickt Deutschland mit einer gewissen Indifferenz auf seine osteuropäischen Nachbarn. Frankreich bleibt der bevorzugte Partner, Paris das erste Ziel neuer Kanzler, Französisch die zweite Fremdsprache an unseren Schulen. Die außenpolitische Fixierung auf den Westen ist historisch gewachsen, doch sie wird der Realität eines sich wandelnden Europas nicht mehr gerecht. Denn Zukunft wird heute längst nicht mehr nur zwischen Brüssel, Berlin und Paris gemacht. Wer sich auf die Suche nach wirtschaftlicher Dynamik, technologischer Innovation und politischer Erneuerung begibt, muss den Blick auch nach Osten richten. Dort, wo sich Aufbruch, Resilienz und Gestaltungskraft bündeln – und wo Länder wie Polen im Begriff sind, eine tragende Rolle für die Zukunft Europas zu übernehmen.
Polen rückt zunehmend ins Zentrum Europas – politisch, wirtschaftlich und strategisch. Das Land ist längst mehr als nur verlässlicher NATO-Partner. Es ist Impulsgeber, sicherheitspolitischer Eckpfeiler und ein europäischer Player, der mit Selbstbewusstsein seinen Platz auf der europäischen Bühne einfordert. Und das zu Recht. Denn Polen hat in den vergangenen Jahren gezeigt, was möglich ist, wenn politische Entschlossenheit auf gesellschaftliche Tatkraft trifft.
Warschau etwa bietet hervorragendes Anschauungsmaterial, wenn es um die urbane Zukunftsgestaltung geht, nicht zuletzt für seine Partnerstadt Berlin. Während wir an der Spree in vielen Fragen auf der Stelle treten, zeigt die polnische Kapitale, wie Transformation konkret gelingen kann: effizient, digital, sauber und sicher. Polens Vizeaußenministerin Henryka Mościcka-Dendys offenbarte das zuletzt eindrucksvoll bei einer Veranstaltung des VBKI. Auch die Zahlen sprechen eine klare Sprache: Laut Umfragen sind 98 Prozent der Warschauerinnen und Warschauer mit der Sicherheit in ihrer Stadt zufrieden – Werte, von denen Berlin nur träumen kann.
Die Zukunft der Europäischen Union wird auch – vielleicht sogar entscheidend – in Warschau mitgestaltet. Das erfordert in Deutschland ein Umdenken. Es ist an der Zeit, den Blick zu weiten, neue Partnerschaften zu pflegen, voneinander zu lernen – auf Augenhöhe, mit Respekt und Offenheit.
Tatsächlich gehört die Zwei-Millionen-Stadt laut internationalen Rankings zu den sichersten Metropolen Europas – und das, obwohl sie im Zuge des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine Hunderttausende Geflüchtete aufgenommen hat, ganz ohne Massenunterkünfte, ganz ohne soziale Destabilisierung. Warschau hat stattdessen gehandelt, beherzt, schnell, unbürokratisch. Das Erfolgsrezept: kluge Planung und ein gemeinsames Verständnis für Verantwortung. Zivilgesellschaft, Verwaltung und politische Führung ziehen an einem Strang – mit sichtbarem Erfolg.
Auch in der Stadtentwicklung setzt Warschau Maßstäbe. Parks und Grünflächen werden gepflegt und erweitert, die Sauberkeit im Stadtbild ist augenfällig. Während Berlin mit vermüllten Plätzen und verwahrlosten Anlagen kämpft, investiert Warschau in Stadtgrün: Mit Programmen wie „Eine Million Bäume für Warschau“ setzt die Stadt ein ökologisches und bürgernahes Zeichen.
Und: Wo Berlin häufig noch im Analogen festhängt, ist Warschau längst digital. Bürgerinnen und Bürger können nahezu alle Behördengänge online erledigen, und das effizient und unkompliziert. Möglich macht das eine zentrale Identifikationsnummer („Pesel“), die Verwaltungsprozesse vereinfacht, Datensilos aufbricht und digitale Innovation fördert. Während in deutschen Amtsstuben noch Drucker rattern und Anträge per Fax verschickt werden, zeigt Warschau, wie Digitalisierung im Dienst der Menschen funktionieren kann. Statt Papierkrieg digitale Effizienz. Statt Warteschlangen Nutzerorientierung und Servicementalität.
Besonders bemerkenswert ist die Bildungspolitik. Während in Deutschland oft noch darüber diskutiert wird, ob Integration überhaupt möglich ist, hat Warschau längst vorgemacht, wie sie gelingt: Geflüchtete Kinder werden zügig eingeschult, ukrainische Lehrkräfte integriert und anerkannt. Schulen öffnen sich pragmatisch und lösungsorientiert. Ein beeindruckendes Beispiel für einen Staat, der Herausforderungen nicht beklagt, sondern gestaltet.
Auch im Bereich Mobilität kann Berlin viel von Warschau lernen. Während hier jahrelang geplant, debattiert und verschoben wird, baut man dort. Neue U-Bahn-Linien entstehen in Rekordzeit, ergänzt durch ein engmaschiges Netz aus Straßenbahnen, Elektrobussen und gut ausgebauter Fahrradinfrastruktur. Der öffentliche Nahverkehr ist pünktlich, sauber, klimatisiert – und damit ein echtes Rückgrat urbaner Lebensqualität
Warschau beweist: Es ist möglich, komplexe Herausforderungen zu meistern – wenn man mutig handelt, Prozesse vereinfacht und den Menschen in den Mittelpunkt stellt. Es geht nicht um ideologische Grabenkämpfe oder das Festhalten an überkommenen Strukturen, sondern um die Bereitschaft, sich zu verändern – zum Wohle aller. Genau diese Haltung fehlt in vielen Teilen Deutschlands, wo häufig der Eindruck entsteht, dass Veränderung vor allem als Bedrohung wahrgenommen wird, nicht als Chance.
Wer nach vorne blicken will, muss sich von alten Denkmustern lösen. Deutschland wäre gut beraten, sich nicht länger allein auf seine westlichen Partner zu konzentrieren, sondern die strategische, kulturelle und wirtschaftliche Relevanz Osteuropas anzuerkennen und zu nutzen. Der Osten Europas ist kein Hinterhof, kein „neuer Markt“ im Sinne alter Investorenlogik. Er ist Herz und Motor eines neuen europäischen Selbstverständnisses – und Polen dessen treibende Kraft.
Die Zukunft der Europäischen Union wird auch – vielleicht sogar entscheidend – in Warschau mitgestaltet. Das erfordert in Deutschland ein Umdenken. Es ist an der Zeit, den Blick zu weiten, neue Partnerschaften zu pflegen, voneinander zu lernen – auf Augenhöhe, mit Respekt und Offenheit. Es wäre nützlich, würden sich Mitglieder des Berliner Senats und der neue Bundesminister für Digitales und Staatsmodernisierung, Karsten Wildberger, einmal ein eigenes Bild davon verschaffen, was man von Warschau lernen kann – und dies dann umsetzen. Europa hat mehr Himmelsrichtungen als nur den Westen. Wer das anerkennt, stärkt nicht nur das europäische Projekt, sondern auch seine eigene Zukunftsfähigkeit.
Dieser Beitrag wurde am 3. September im Tagesspiegel veröffentlicht.
Autoren:
Kirsten Giering ist Gründerin und Inhaberin von SINICA CONSULTING und Co-Vorsitzende des VBKI-Ausschusses „Internationale Politik und Wirtschaft“.
Johannes von Thadden lebt in Warschau und Berlin und ist CEO von Draco Aircraft. Zuvor war er unter anderem Bundesgeschäftsführer der CDU.

Johannes von Thadden und Kirsten Giering – mit der polnischen Vizeaußenministerin Henryka Mościcka-Dendys (r.).
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