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11.09.24

„Wir wissen zu wenig voneinander“

„Wir wissen zu wenig voneinander“

Wie tickt der Osten Deutschlands? Diskussion mit Dr. Ursula Weidenfeld und Mario Czaja

 

Sachsen und Thüringen haben bereits gewählt, in Brandenburg steht der Urnengang noch aus: Wir haben die Gelegenheit genutzt, um gemeinsam mit zwei Kennern der ostdeutschen „Seele“ nach den tieferliegenden Gründen für das Wahlverhalten im Osten der Republik zu forschen. Sowohl die Journalistin Dr. Ursula Weidenfeld als auch Mario Czaja, MdB, vormaliger Generalsekretär der CDU und Ex-Gesundheitssenator in Berlin, haben ihre Gedanken zur Lage im Osten in kürzlich erschienenen Büchern niedergeschrieben.

Frau Weidenfeld, Autorin von „Das doppelte Deutschland“, verwies auf die Differenzerfahrungen, die interessanterweise auch fast 35 Jahre nach der Deutschen Einheit im Osten noch fortdauerten und in der dritten Nachwende-Generation sogar noch zunehmen würden. Einer der Gründe: „Wir wissen zu wenig voneinander.“ Der politisch-kulturelle Blick im 20. und 21. Jahrhundert sei immer in Richtung Westen gerichtet gewesen, und zwar sowohl in der Bundesrepublik als auch in der DDR. Insbesondere in Bonn sei das Interesse an einer Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten seit 1953 überschaubar gewesen, Bundeskanzler Konrad Adenauer habe etwa im Jahr des Aufstands vom 17. Juni überredet werden müssen, nach Berlin zu fliegen, um der Opfer zu gedenken. Insgesamt habe die Vorstellung einer Wiedervereinigung den führenden Politikern im Westen jahrelang mehr Angst gemacht als Hoffnung. Diese westliche Ignoranz habe zu einer bis heute fortdauernden unterschwelligen Kränkung in Ostdeutschland geführt.

Mario Czaja hat im Alter von 14 Jahren die Wende in Ost-Berlin miterlebt – und die anschließenden tiefgreifenden Transformationen. „Wir haben damals eine Abstimmung mit den Füßen erlebt – bis weit über die Deutsche Einheit hinaus“, so der Autor von „Wie der Osten Deutschland rettet“.  Insgesamt 1,8 Millionen Menschen – zumeist Frauen und gut ausgebildete junge Menschen – haben die ehemalige DDR verlassen und sind in den Westen gegangen. Ein historisch einmaliger Aderlass, der zu tiefreifenden Verwerfungen sowohl in der Demografie des Ostens als auch in seiner geistigen Disposition geführt habe.  

Beide Autoren führen das Wahlverhalten auf tiefsitzende Verletzungen infolge von Desinteresse des Westens am Osten zurück. Bis heute, so Czaja, finde DDR-Geschichte in den Schulen keine Erwähnung, in den Spitzenpositionen in Deutschland sind Ostdeutsche stark unterrepräsentiert. „Stellen Sie sich das mal in Bayern vor.“ Interessanterweise führten diese Negativerfahrungen zu einer Art Wagenburgmentalität im Osten, die sich an der Identitätsbildung ablesen lasse. „Man fühlt sich im Osten der Republik nicht zuerst als Deutscher oder Europäer, auch nicht als Sachse oder Thüringer“. Die erste Identität sei – Ostdeutsch.

In der anschließenden von Daniel Friedrich Sturm, dem Leiter des Hauptstadtbüros des Tagesspiegel, moderierten Diskussion ging es auch um die Frage, warum sich die beschriebenen Differenzerfahrungen im den vielen Wählerstimmen für die AfD nierderschlägt. Czaja sieht darin ein Ventil, um eine Form von Selbstwirksamkeit zurückzugewinnen. Beide, sowohl Weidenfeld als auch Czaja, verwiesen auf die enorme basisdemokratische Erfahrung, die viele Ostdeutsche zur Wendezeit gemacht hätten – und die in der Folgezeit von zahlreichen Ohnmachtserfahrungen abgelöst worden sei. Es gebe im Osten ein weit verbreitetes Gefühl, von vornherein keine Chance zu haben – das spiegele sich etwa in der vergleichsweise geringen Beteiligungsquote an Stipendienprogrammen. Zugleich müsse sich die Politik den Vorwurf gefallen lassen, sich der „Arroganz der Macht“ hingegeben zu haben. Selbstkritisch führt Czaja an, die Strategie der „asymmetrischen Wählerdemobilisierung“ der CDU sei Mitschuld an der heutigen Situation.

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